Kategorie-Archiv: Strategie

Fiktive Zukunftsbeiräte als Korrektiv in Transformationsprozessen

Auf einer Transformationsreise tauchen immer wieder Fragen der Orientierungssuche auf. Gegenwart und Zukunft, alte und neue Paradigmen ringen miteinander. Allzu oft behalten die Eigenlogiken, Routinen, das Bequemere, die Pragmatik oder das Altbewährte die Oberhand. Beiräte sind eine interessante Intervention, dem Zukünftigen und Werdenden mehr Kraft und eine bessere Kondition zu verleihen. In einer Zeit, in der die Führungsetagen der meisten Organisationen noch immer von (weißen) Männern geprägt sind, können fiktive Zukunftsbeiräte vielleicht eine wichtige Übergangslösung darstellen. In diesem Beitrag möchte ich ein Konzept bzw. eine Methode und Fallbeispiele für fiktive Zukunftsbeiräte vorstellen, in der sich Gedanken der Theory U, Social Presencing Theater und Soziodrama verbinden. 

Beiräte als hybride Transformations-Organe

Vor einer ganzen Weile begegnete ich mal einem Berater, der sich auf die Arbeit mit Aufsichtsräten konzentriert hatte. Aufsichtsräte sind hybride Organisationseinheiten irgendwo zwischen betriebswirtschaftlichen Kontroll-, unternehmerischen Mitgestaltungs- und fachlichen Sparringsfunktionen, besetzt mit Menschen, die keine Organisationsmitglieder und nicht weisungsgebunden sind. Einige Jahre später wurden Kunden- und Digitalbeiräte in Organisationen populär, die Kund*innen bzw. Digitalexpert*innen eine Stimme und ein Forum geben und einen ähnlichen Hybridcharakter haben. Derzeit erleben wir den Aufstieg von Klima- und Bürgerräten als partizipatives Korrektiv und Impulsgeber für Gesellschaft, Politik und Verwaltung. Aufsichts- und Beiräte in jeglicher Form stellen spannende Gegengewichte zu den starken Eigenlogiken in Organisationen dar. Sie integrieren die Perspektiven und das Wissen von den Rändern des Systems und jenseits der Systemgrenzen. Sie zwingen Systeme, den Blick auf das größere Ganze und die Veränderungsdynamiken zu legen. 

Fiktive Zukunftsbeiräte gründen

Die Implementierung eines richtigen Beirats ist eine größere und längerfristige Intervention in einem System. Und selbst beiratsähnliche Werkzeuge wie Wisdom-Councils sind deutlich aufwändiger in Vorbereitung und Durchführung. Wir haben einen Weg gefunden, wie Führungskräfte, Teams, Organisationen oder Communitys schnell und einfach fiktive Zukunftsbeiräte aufsetzen können und einen Teil der Effekte von Beiräten simulieren können. Wir hatten die Idee schon einmal ganz kurz im Artikel “Futures Thinking in Aktion” angerissen. In Teil 1 möchte ich zeigen, wie wir mit fiktiven Zukunftsbeiräten gearbeitet haben. In Teil 2 tauchen wir dann tiefer in das Methodische ein. 

Teil 1: Fiktive Zukunftsbeiräte in der Praxis

Ein fiktiver Zukunftsbeirat, wie wir ihn hier vorstellen, besteht aus drei Sitzen. Dieses Konzept ist abgeleitet von den drei zentralen Entkopplungen (ökologisch, sozial, spirituell) nach Otto Scharmer und deren Übersetzung im 4D-Mapping des Social Presencing Theaters (beides ausführlicher im Methodenteil).

  • ein*e Repräsentant*in für den Planeten bzw. die Natur
  • ein*e Repräsentant*in für jemanden oder etwas, dessen/deren Stimme im System zu wenig Gehör findet
  • ein*e Repräsentant*in für das höchste Potenzial des Systems

Selbstverständlich kannst du dir auch Zukunftsbeiräte mit anderen Repräsentant*innen, mit mehr oder weniger Sitzen bauen. In seinem Buch The Good Ancestor erwähnt Roman Krznaric ein Beispiel einer Future Citizens Assembly aus Japan. Dort wird z.B. mit fiktiven Vertretern der siebten Generation debattiert. Und auch das Klima-Parlament der Wesen und Unwesen passt in diese Logik.

Eine Case-Study: Ein Zukunftsbeirät für ein Museum

Im Dezember 2021 hatten Valentin und ich das Vergnügen, gemeinsam mit dem Sinclair-Haus zu arbeiten. Wir waren zu einem virtuellen Halbtagesworkshop eingeladen, um das erweiterte Museums-Team bestehend unter anderem aus Kurator*innen, Künstler*innen, der Öffentlichkeitsarbeit, der Kunstvermittlung zusammenzubringen und auf die kommende Ausstellung zum Thema „Wandelmut“ vorzubereiten. Dabei sollte es um eine gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Thema Wandel in einer mehr-als-menschlichen Welt gehen. 

Nach einer Einstimmung in das Thema Wandel auf individueller, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene haben wir die Teilnehmer*innen zunächst Rollen für Dinge oder Lebensformen sammeln lassen, die eine Lebensdauer von mehr als 100 Jahren haben. Anschließend sprachen sie in Breakout-Räumen aus einigen dieser Rollen dazu. Darüber haben die Teilnehmer*innen sich sowohl in einer mehr-als-menschlichen Perspektive sowie mit längerfristigen Zeitdimensionen vertraut gemacht. Zudem wollten wir sie für mögliche Repräsentant*innen des Planeten und allem Natürlichen erwärmen. 

In einer zweiten Runde ging es dann um das erweiterte soziale Bezugssystem des Museums. Die Anwesenden sollten Rollen sammeln, die irgendwie mit dem Museum und der Ausstellung zu tun haben. Egal wie nah oder fern, wie direkt oder indirekt dieser Bezug sein mag. Auch hier schlüpften die Teilnehmer*innen in Rollen dazu. Neben dem Einfühlen für das soziale Feld, in dem sich ein Museum und solch eine Ausstellung bewegt, ging es darum zu schauen, wessen Stimmen zu wenig Gehör bekommen. 

Fiktive Zukunftsbeiräte


Anschließend führten wir das Konzept der drei Entkopplungen (siehe unten) ein. In einer Journaling-Runde suchte jede*r Teilnehmer*in Repräsentant*innen für die drei Sitze des Zukunftsbeirats. Gemeinsam haben wir dann für die Ausstellung “Bewerbungsgespräche” für den Zukunftsbeirat geführt. Dafür schlüpften Teilnehmer*innen in Rollen, die sie für den Zukunftsbeirat nominieren wollten. Die Gruppe entschied, sich nicht auf drei Sitze beschränken zu wollen, und aus drei Sitzen wurden sechs. Der Zukunftsbeirat setzte sich zusammen aus einem Pilz, einem Tier, einer/einem Obdachlosen/Obdachlosem, einer BIPoC-Klimaaktivist*in aus Südamerika, dem “Loch in der Mitte von allem” sowie Mykorrhiza. Daraus – sowie aus dem abschließenden Sharing – entspann sich eine intensive und erkenntnisreiche Diskussion über die anstehende Ausstellung und das Wirken des Museumsteams. Dabei ging es um Fragen der Repräsentanz und Wirksamkeit: wem geben wir eine Stimme und wessen Stimme wird hier nicht gehört? Wen beziehen wir in unsere Ausstellung mit ein und wen nicht? Wie erzielen wir mit einer Ausstellung über Wandel Wirkung? Welche Rolle nehmen wir als Museum in der lokalen und globalen Gesellschaft ein? Der fiktive Zukunftsbeirat hat dem Team geholfen, sich für noch offene Fragen, Themen und Spannungsverhältnisse zu sensibilisieren und mutiger nach vorn zu schauen. 

Weitere Anwendungsbeispiele für fiktive Zukunftsbeiräte

  • Wir haben das Konzept in einem Leadership-Programm für Nachwuchsführungskräfte eines Industrie-Unternehmens genutzt. Neben dem Zukunftsbeirat war der neue CEO als Rolle präsent. Der Zukunftsbeirat wurde genutzt, um mehr über den neuen CEO, seine Ambitionen und den Zeitenwechsel zu erfahren, der mit dem Wechsel an der Unternehmensspitze einhergehen könnte. 
  • Im Transformation Circle, einer von uns initiierten monatlichen Supervisions-Gruppe für Transformationsbegleiter*innen, haben wir mit dem Zukunftsbeirat das Vorhaben einer Teilnehmerin in Aktion erkundet. Andere Teilnehmer*innen schlüpften dafür in die von der Protagonistin vorgegebenen Rollen. Auch in dieser Variante hat der Zukunftsbeirat eine sehr tiefgehende Auseinandersetzung mit den Zukunftsplänen der Protagonistin ermöglicht.  
  • Beim Meet-Up der Berlin Change Days funktionierte das Konzept nur bedingt. Nicht zuletzt deshalb, weil eine relevante Zahl der Teilnehmer*innen keinen Bezug zu den Berlin Change Days hatte, es an einem gemeinsamen Bezugspunkt fehlte und der Zukunftsbeirat zu abstrakt in Gestalt und Ratschlägen blieb. Statt drei oder sechs Rollen haben wir den Rat für jede Stimme aus den drei Kollektivrollen geöffnet. 

Gemeinsamer Bezug als Voraussetzung

Unser Learning bislang: Damit fiktive Zukunftsbeiräte gut funktionieren, braucht es einen klaren Bezugspunkt. Je unklarer dieser Bezugspunkt wird, desto schwieriger wird es, einen Zukunftsbeirat zu bilden. Für die Durchführung solch einer Session haben wir 90 bis 150 Minuten inklusive Erwärmungen, Debriefing und generativem Dialog gebraucht. 

Fiktive Zukunftsbeiräte als Korrektiv in Transformationsprozessen

Als Abschluss des ersten Teils möchte ich die Idee vorstellen, solche fiktiven Zukunftsbeiräte in der Arbeit mit Transformationsprozessen zu nutzen. Ähnlich wie in früheren Zeiten die Konsultation des Orakels von Delphi können fiktive Zukunftsbeiräte Führungskräften, Teams oder Organisationen helfen, den Gestaltungsspielraum in ihrer Organisation offenzuhalten bzw. weiter zu öffnen. Selbst wenn (oder gerade weil) sie nur fiktiv sind: fiktive Zukunftsbeiräte sind zusätzliche Fürsprecher für ambitionierte Vorhaben und helfen einer Organisation, Teams oder Führungskräften langfristige Ziele und Verantwortung besser im Blick zu behalten und nicht nur auf das Machbare zu schauen. 

Mehr als nur eine einmalige Übung

In der Anwendung haben wir die co-kreative Entwicklung und einmalige Befragung solch eines Beirats als kraftvolles Werkzeug erlebt. Aber auch eine regelmäßige Konsultation nach/vor jedem neuen Zyklus oder Sprint sowie eine Umbesetzung oder Erweiterung des Gremiums scheinen uns spannende, leichtgängige und zugleich aktivierende Wege, mit fiktiven Zukunftsbeiräten in Transformationsprozessen zu arbeiten. Wenn du gern einen fiktiven Zukunftsbeirat für deine Transformationsarbeit entwickeln willst, nimm gern Kontakt mit uns auf. 

Teil II: Die theoretische Basis

Wer methodisch-theoretisch etwas tiefer eintauchen möchte, findet in diesem Teil die Basis für diese Art der fiktiven Zukunftsbeiräte. 

Das hier vorgestellte Konzept besteht einer Bricolage der drei Entkoppelungen nach Otto Scharme (Theory U), dessen Übersetzung im 4D-Mapping des Social Presencing Theaters (SPT), einen Auszug aus dem Seed Dance (SPT) und die Arbeit mit Rollen aus dem Soziodrama. Wer tiefer in drei Entkopplungen (Three Divides), das 4D-Mapping oder den Seed Dance eintauchen will, sollte sich das Buch “Social Presencing Theater” von Arawana Hayashi anschauen. Für die Arbeit mit dem Soziodrama, möchte ich das “Praxishandbuch Soziodrama” von Mirja Anderl, Christoph Buckel und Uwe Reineck empfehlen.

Die drei Entkopplungen (Three divides)

Otto Scharmer beschreibt die drei großen Entkoppelungen der gegenwärtigen Ära.

  • Die ökologische Entkopplung: als Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften sind wir aktuell stark von der Natur entkoppelt. Das äußert sich z.B. in der Vielzahl ökologischer Krisen, allen voran den Klima- und Biodiversitätskrisen.
  • Die soziale Entkopplung: als Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften sind wir aktuell stark von anderen Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften entkoppelt. Das äussert sich z.B. in der massiven Polarisierung von Einkommen, dem Zerbröseln politischer Institutionen, Intoleranz, Hass oder auch kriegerischen Auseinandersetzungen.
  • Die spirituelle Entkopplung: als Menschen, Gemeinschaften und Gesellschaften sind wir aktuell stark von uns selbst entkoppelt. Das äußert sich z.B. als der massiven Zahl mentaler Krankheiten wie Burnouts, Traumata oder Suizids.

Die Übersetzung im 4D-Mapping

Im 4D-Mapping des Social Presencing Theaters geht es darum, für ein Anliegen eine*r Fallgeber*in das Zusammenspiel der wichtigsten Akteure zu erkunden und Ideen für einen nächsten Schritt zu gewinnen. Wie bei einem Soziodama oder einer Aufstellung sind in jedem 4D-Mapping neben Rollen für die Akteure und Stakeholder*innen des Falls auch Repräsentant*innen der drei Entkopplungen dabei. Die ökologische Entkopplung wird durch eine Rolle aus dem ökologischen Kontext repräsentiert. Das kann z.B. das Klima, der Planet oder auch das lokale Wassersystem sein. Für die soziale Entkopplung wird eine Rolle gewählt, deren Stimme im System zu wenig Gehör findet. Die spirituelle Entkopplung wird durch eine Rolle repräsentiert, die das höchste Zukunftspotenzial des Systems zum Ausdruck bringt. In einem Fall, an dem ich teilgenommen habe, war das z.B. die nächste Generation der Unternehmensgründer*innen. 

Der Seed Dance

Der Seed Dance ist eine weitere Praktik im Social Presencing Theater. Im Seed Dance imaginieren und erspüren die Teilnehmer*innen ein gewünschtes Zukunftsfeld. Für dieses Zukunftsfeld lässt man den Körper eine Skulptur finden. In weiteren Schritten werden dann eine Skulptur für den Status Quo gefunden, ein Weg vom Status Quo zum Zukunftsfeld, Trieb- und Beharrungskräfte sowie Resonanzen von Mitwirkenden und Beobachter*innen integriert.

Wir haben für den fiktiven Zukunftsbeirat nur die Entwicklung der Skulptur des Zukunftsfeldes genutzt. Diese Arbeit hat sich als sehr hilfreich erwiesen, Teilnehmer*innen konkrete Ideen für die schwierige und spirituell anmutende Kategorie “das höchste Potenzial des Systems” zu geben.

Die Rollenbegegnungen des Soziodrama

Im Soziodrama versuchen wir mit einer Gruppe ein Thema in Aktion zu erkunden. Dafür kreieren und übernehmen Teilnehmer*innen die Rollen (und ggf. Schlüsselszenen), die für solch eine Exploration notwendig sind. Teilnehmer*innen sprechen und interagieren in Rollen miteinander, erkunden so das Thema und simulieren das jeweilige soziale System. Im anschließenden Sharing teilen die Teilnehmer*innen ihre Erlebnisse, Erfahrungen und Learnings. Im Fall des fiktiven Zukunftsbeirats übernehmen Teilnehmer*innen die Rollen für die drei Sitze und sprechen aus ihnen. Häufig gibt es mit der Organisation, dem Team oder dem CEO noch eine vierte Rolle. Die Organisation kann Fragen an den fiktiven Zukunftsbeirat stellen, sie kann ihre Strategien oder Zukunftsanliegen präsentieren und Stimmen aus dem Beirat hören. Teilnehmer*innen können aber auch als Individuen den fiktiven Zukunftsbeirat (in Rollen) befragen. 

Abschließende Bemerkungen zu fiktivien Zukunftsbeiräten

Wie bei einem echten Beirat liegt die Herausforderung nicht in der Arbeit mit dem Beirat, sondern in der Auswahl der richtigen Repräsentanten. Daher sollte ausreichend Vorbereitung, Aufwärmung und Exploration vor der Arbeit mit einem fiktiven Zukunftsbeirat erfolgen.

Der Beitrag <strong>Fiktive Zukunftsbeiräte als Korrektiv in Transformationsprozessen</strong> erschien zuerst auf Komfortzonen.

Spektulativer Katastrophenalarm: Spielerisch durch die Polykrise

Noch habe ich, haben wir keine praktische Erfahrung mit Simulationen und Bewältigungen von Krisen und Katastrophen. Aber das soll sich ändern. Denn die nächsten Jahre werden uns Krisen, Katastrophen und Chaos weiter begleiten. Unsere Gesellschaften, Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften sind von einer Vielzahl von gleichzeitigen Transformationen und damit Krisen geprägt. Diese Polykrise bringt mehr, neue und multiple Katastrophen und Konflikte hervor. Um handlungsfähig zu bleiben und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen, braucht es vielleicht neue, spekulative und spielerische Formen des Erkundens, Verprobens und Vorbereitens auf diese Katastrophen in Zeiten der Polykrise. Dazu möchte ich einen Beitrag leisten. Dieser Artikel reflektiert unseren ersten Prototypen.

“Ich habe keine Ahnung von Katastrophenschutz.”

“Ich habe keine Erfahrung mit Krisenstäben. Ich habe keine Erfahrung als Helfer vor Ort. Ich kenne die Ausbildungen und Übungs-Szenarien von Feuerwehr, Polizei, Bundeswehr, THW oder Rotes Kreuz nicht. 

Aber meine Komfortzonen-Kolleg*innen und ich kennen uns mit Transformationsprozessen aus. Mit Zukünften und Visionen, mit Strategie- und Organisationsentwicklung. Mit Komplexität und Chaos. Mit Co-Kreation und Partizipation. Mit spekulativen Szenarien und spielerischen Simulationen. 

Wir möchten diese beiden Sphären zusammenbringen und zusammen mit euch spielerisch neue, multiple Katastrophen und die Polykrise erkunden. Wie in einem Science-Fiction-Film wollen wir mit euch sowohl im Hinblick auf die Katastrophen als auch mit Blick auf den Kontext spekulieren, vielleicht auch wild spekulieren und spielerisch eintauchen. 

Wir werden gemeinsam fiktive Katastrophen auswählen und kreieren – erst einmal völlig egal wie wahrscheinlich diese sind, solange sie einigermaßen plausibel erscheinen. 

Wir werden diese Katastrophen in einer fiktiven deutschen Großstadt stattfinden lassen, einer Großstadt, in der die Verhältnisse etwas anders sein mögen, als das aktuell ist. Eine fiktive Großstadt, die stärker von Umbrüchen betroffen sein wird, als das gegenwärtig der Fall ist. Auch diese Umbrüche werden wir gemeinsam ausheben.“

Ungefähr so verlief die Eröffnung unseres Prototyps “Spekulativer Katastrophenalarm: spielerisch die Polykrise erkunden”, den wir im Oktober 2023 zusammen mit 20 Teilnehmer*innen in einer Zoom-Session durchgeführt haben.

Spekulativer katastrophenalarm
Graphic Recording von Marie-Pascale Gafinen

Intentionen und Vorüberlegungen

Der Prototyp entstand im Rahmen des Mutant Futures Programm von Jose Ramos, an dem Valentin und ich zusammen mit unserer engen Netzwerkpartnerin Sabine Koppe im Herbst 2023 teilgenommen haben. Es ist mein Versuch, ja auch meine Hoffnung, mich sinnvoll in Klimakrise und all die kommenden Folgekatastrophen einzubringen und handlungsfähiger zu werden und vorbereiteter zu sein. Ich als Individuum. Wir als Team. Wir mit Organisationen. Wir als Communities, Städte, Gesellschaften.

Krisen, Katastrophen, Konflikte, Kollaps und Chaos interessieren mich seit einer ganzen Weile. Solche Momente des Umbruchs und der Umwälzung faszinieren und verschrecken mich. Es sind Momente, in denen nichts ist, wie sonst. Wo sichtbar wird, wie fragil, aber auch gestaltbar alles ist. Es sind Wendepunkte, an denen Transformation sichtbar wird und sich entscheidet, wie es weitergeht. Momente, in denen Akteure zeigen, was sie (noch/schon) können – oder eben nicht. Vor dem Hintergrund von Klimakrise, Rechtsruck, neuen Kriegen und Konflikten, … fürchte ich, dass es zukünftig weit mehr, anders und gleichzeitig knallen, krachen, crashen, … wird. Dass sich die Dinge nicht natürlicherweise zum Guten wenden. Angesichts dieser Polykrise werden wir uns nicht nur im Umgang mit Komplexität mehr üben müssen, sondern auch im Navigieren von Chaos und Kollaps. 

Mich fasziniert an Krisen, Katastrophen und Chaos aber auch das Organisationale und Co-Kreative. Innerhalb kürzester Zeit wird über Regionen- und Ländergrenzen, über Einsatzstellen, Abteilungen und ganze Organisationen hinweg, mit ehrenamtlichen und professionellen Kräften zusammengearbeitet. Es werden kurzfristig temporäre Organisationsstrukturen aufgebaut und nach der Krise wieder aufgelöst. Es werden außergewöhnliche Ressourcen bereitgestellt.

Auch darüber möchten wir als Komfortzonen mehr erfahren. Wir möchten verstehen, wie Städte, Behörden, Sicherheits-, Infrastruktur-, Hilfs- oder Gesundheitsorganisationen an solchen Themen arbeiten und sich organisieren. Herausfinden, wie man sich dort auf solche Schock-Ereignisse vorbereitet und mit Krisen allgemein bzw. der Polykrise umgeht. Gemeinsam mit Akteuren aus diesem Umfeld möchten wir solche neuen Ereignisse simulieren und sie bei Transformationsthemen begleiten. Denn auch wenn wir mehr wünschenswerte Zukünfte brauchen, werden uns Krisen, Katastrophen und das Chaos begleiten.

Der hier skizzierte Prototyp dient daher nicht vorrangig dem Ziel, ein Format zu testen, sondern die Hypothesen zu überprüfen und mit relevanten Akteuren ins Gespräch zu kommen.

Drei zentrale Annahmen  

  • Annahme 1: Die vielen gleichzeitigen Transformationen/Krisen (Polykrise)  bringen neue, multiple und insgesamt mehr Katastrophen hervor. 
  • Annahme 2: Diese Katastrophen treffen anders als früher nicht auf stabile Gesellschaften, Institutionen, Organisationen und Gemeinschaften, sondern auf eine instabile (brüchige) Welt. 
  • Annahme 3: Daraus entsteht ein sich selbst verstärkender Kreislauf.

Drei Hypothesen für den Prototypen

  • Hypothese 1: Als Gesellschaft, Städte, Communities und Organisationenr sind wir schlecht auf Katastrophen und die Polykrise vorbereitet.
  • Hypothese 2: Wir werden besser im Umgang mit nicht-planbaren Herausforderungen umgehen müssen – Chaos.
  • Hypothese 3: Unsere Methoden können einen Beitrag leisten, das zu ändern.
Black Out Poetry von Dirk Bathen

Das Konzept zum spekulativen Katastrophenalarm

Für den Prototypen haben wir eine spekulativ-szenische Simulation gewählt. Diese bot die Möglichkeit, sich angesichts der vielen Krisen und möglichen Katastrophen nicht im Dickicht etablierter Positionen, Ängste und Wahrscheinlichkeiten zu verheddern und die Wirklichkeit zu entlasten. Spekulationen nutzen bewusst Stilmittel wie Übertreibungen und Verfremdungen, um zu inspirieren und zu erkunden. Szenisches Arbeiten macht diese Katastrophen-Szenarien, die Dynamiken und Emotionen erlebbarer. Dieser spekulativ-szenische Ansatz ermöglicht Probehandeln und das Erkunden von Neuem.

Wir haben in dem Prototypen mehrfach spekulativ gearbeitet. Einerseits haben wir uns überlagernde Katastrophen erdacht, andererseits haben wir diese in einer fiktiven deutschen Großstadt in Zeiten der Polykrise stattfinden lassen. Wir haben Rollen für Stadtakteure und für die Katastrophen vergeben und an drei Stichpunkten (zu Beginn, im Verlauf und zum Ende der Katastrophen) in die Begegnung gebracht.

Szenisch haben wir uns am Soziodrama orientiert. Denn in einem Soziodrama kann die Gruppe Szenarien und Szenen kreieren, Rollen übernehmen und aus den Rollen dann die Szenarien und Szenen erkunden. In unserer Soziodrama-Simulation haben wir nach einem Warm-Up ein Szenario und die dafür nötigen Rollen kreiert. Anschließend haben wir drei Zeitpunkte des Szenarios angespielt. Nach dem Spiel gab es eine Reflexion des Erlebten.

Der spekulative Katastrophenalarm stößt sofort auf Resonanz

Die Ankündigung des Events “Spekulativer Katastrophenalarm: spielerisch durch die Polykrise” hatte sofort eine relative große Traktion auf LinkedIn, und innerhalb weniger Stunden war das Event ausgebucht. 35 deutschsprachige Teilnehmer*innen sehr verschiedener Art kamen am 25. Oktober 2023 von 18.30 bis 21.30 Uhr zusammen. Darunter Menschen mit sehr viel und sehr wenig Erfahrung im Bereich Katastrophenschutz. Viele weitere haben Interesse bekundet und nach einer Wiederholung gefragt. 

Was vor der Session geschah

Bei der Co-Konzeption und -Moderation hat mich unsere enge Kollegin Sabine Koppe unterstützt, die ebenfalls an dem Mutant Futures Program teilgenommen hat. Tollerweise hat auch Marie-Pascale sofort zugesagt und die Session mit einem Graphic Recording und einem Generative Scribing bereichert. Und auch Dirk und Valentin waren dabei und haben während der Session Kleingruppen geleitet.

Sabine Koppe und Jörg Jelden beim Speculative Futures Meetup

Vorab haben wir die Teilnehmer*innen gebeten, sich zu Katastrophen und Krisen zu informieren. In der Einladungs-Mail hieß es sinngemäß: 

“Mach dich mit fiktiven und historischen Katastrophen vertraut. Wir wollen in der Session nicht auf tagesaktuelle und bekannte Katastrophen schauen, sondern auf ungewöhnliche und neue Ereignisse. Dafür kann es helfen einen Blick auf Bücher, Filme oder Spiele z.B. aus den Genres Horror, Science-Fiction oder Katastrophen zu werfen. Auch historische Katastrophen wie Pompeji, 9/11 oder Fukushima mögen interessant sein. Und auch ein wacher Blick auf sozial-ökonomisch-ökologisch-technologisch-politische Entwicklungen und Signale werden uns helfen.” 

Wie die Session ablief

Am 25. Oktober 2023 von 18.30 bis 21.30 Uhr kamen mehr als 30 Menschen zusammen. Nach der Eröffnung (s. oben) haben wir uns in vier Kleingruppen zunächst miteinander bekannt gemacht und thematisch aufgewärmt. Wir haben unter anderem die Bücher, Filme oder Spiele aus den Genres Sci-Fi, Horror, Katastrophe geteilt. In Tandems haben wir uns dann ausgetauscht, welche konkreten Katastrophen und Krisen wir aktiv miterlebt haben und was wir daraus mitgenommen haben.  

In einem zweiten Impuls habe ich das Wechselspiel aus Polykrise und Multikatastrophen ausgeführt und das Konzept der Shocks, Slides und Shifts eingeführt. 

„Für diese Session werden wir das Konzept von Shocks, Slides und Shifts aus der amerikanischen Social-Justice-Bewegung nutzen. Auf der einen Seite gibt es Schock-Ereignisse (eher kurzfristig, hoher Impact, viel direkte Dynamik, Schäden, …), daneben gibt es Slides (längerfristig, schleichend verlaufende Entwicklungen, Trends, … ). Wenn diese Shocks und Slides aufeinandertreffen, entstehen Shifts (also Paradigmenwechsel, neue Gesetze, neue Regularien, neue Strukturen, …). Damit sind solche Shocks immer auch Gelegenheiten zum Gestalten.“

Wir haben die Teilnehmer*innen dann in vier Kleingruppen eingeteilt. Die erste Kleingruppe hat sich mit den Katastrophen beschäftigt, während die anderen drei tiefer in die Welt in der Polykrise eingetaucht sind und überlegt haben, welche Themen die fiktive Großstadt noch bewegen.  

Die Katastrophen-Gruppe hat drei Ereignisse ausgewählt und sich grob den Verlauf überlegt: eine Hitzewelle, eine unbekannte Hirnkrankheit die das Sprachzentrum angreift und ein Stromausfall von mehr als 48 Stunden. 

Spekulativer Katastrophenalarm

Für dieses Setting haben wir dann Rollen kreiert und verteilt. Anwesend waren z.B. ein Kind, ein Journalist, Rettungssanitäter, die Verwaltung, … Alle übrigen haben wir gebeten entweder in die Rolle von Bürger*innen oder Vertreter*innen einer zukünftigen Generation zu schlüpfen und beobachtend teilzunehmen. Wir haben die Teilnehmer*innen über eine Mischung aus Mentalreise und Introspektion tiefer in die Rollen und in das Szenario geführt und anschließend die Katastrophen über drei Zeitpunkte (zu Beginn, in der Mitte, zum Ende) spielerisch erkundet. 

Auffällig war, dass die Teilnehmer*innen überwiegend Rollen kreierten, die wenig Gestaltungsspielraum jenseits des Privaten haben. Es gab keine*n Bürgermeister*in, keinen Krisenstab, keine Feuerwehr, Polizei oder Katastrophenschutz. Dadurch war das Setting stark von Ohnmacht und individuellen Bewältigungsstrategien geprägt. Das Katastrophensetting führte dazu, dass kaum miteinander gesprochen und interagiert wurde, sondern die Akteure stark für sich selbst agierten, auf ihr eigenes Wohl und Überleben orientiert waren. Während die eine Katastrophe (Hitzewelle) sehr präsent war, ging die andere eher unter (unbekannte Gehirnentzündung). Die Katastrophen schienen im Wettkampf um Aufmerksamkeit zu stehen. Bezüge und Querverbindungen wurden kaum gezogen. Für mich als Leiter/Beobachter zeigte sich die Hitzewelle wie ein erneuter Lock-Down. Ebenfalls war auffällig, wie wenig Führungsimpulse und Gestaltungsideen es in diesen Notlagen gab und wie sozial passiv alle waren.

Spekulativer Katastrophenalarm
Generative Scribing von Marie-Pascale Gafinen

Im Sharing zur Simulation ging es um die Erlebnisse in den Rollen und die Erkenntnisse daraus. 

“Als Vertreter der zukünftigen Generation war ich geschockt, dass ihr davon schon so überfordert wart.”

Das war wohl der nachdrücklichste Satz des Abends und ein guter Ansporn weiter an dem Thema dranzubleiben.

In der abschließenden Diskussion über Erkenntnisse aus der Session kam auch das Generative Scribing von Marie-Pascale zum Einsatz. Der wichtigste Satz für mich war hier:

“Im Katastrophenschutz beschäftigen wir uns eigentlich kaum mit gleichzeitig auftretenden Katastrophenlagen.” Dieser Satz eines sehr erfahrenen, ranghohen Katastrophenschützers war eine weitere wichtige Bestätigung für den Prototypen.

Weitere Erkenntnisse zum Format und Thema

Einige Gedanken habe ich direkt per LinkedIn publiziert. Hier noch ein paar weitere Erkenntnisse.

Die drei Stunden waren tendenziell zu kurz für so ein komplexes Unterfangen. Darunter litten die Ausgestaltung des Szenarios und das Warm-Up der Rollen. Zudem fehlte die Möglichkeit, alternative Lösungen auszuprobieren. 

Beobachter*innen als Bürger und Vertreter*innen zukünftiger Generation zu setzen hat sehr gut geklappt und ist eine Bereicherung für jedes soziodramatidche Spiel.

In einer nächsten Runde würde ich bestimmte Rollen bzw. Kontexte stärker setzen. So würde ich einen Krisenstab und eine Nachrichtenredaktion als Kontexte bzw. Szene gern setzen und mit Rollenbegegnungen innerhalb dieser Kontexte (Multi-Szenen-Spiel) arbeiten. Vielleicht ist es produktiver mehrere Kontexte statt den Katastrophenverlauf zu simulieren.

Solche offenen Formate sind nur bedingt geeignet unsere Hypothesen zu prüfen. Es fehlt zum einen Fachwissen seitens der Teilnehmer*innen. Es fehlt zum anderen ein irgendwie gearteter Zusammenhalt der Gruppe über das Themeninteresse hinaus. Daher wünschen wir uns sehr, diese methodischen Ansätze mal gemeinsam mit Organisationen zu verproben, die eine klare Funktion in der Krisen- und Katastrophenbewältigung haben, also Verwaltungen, Krisenstäben, Sicherheits-, Gesundheits-, Hilfs- und Infrastrukturorganisationen. Jenseits unserer Hypothesen sind die offenen Formate dennoch nützlich und interessant und scheinen auf viel Resonanz zu stoßen. Von daher werden wir sie auch fortführen.

Inhaltlich bin ich nach der Session stärker in die Themen Polykrise und multiple Katastrophen (compound disasters) eingetaucht. Dabei bin ich auch mit dem Thema Kollaps stärker in Kontakt gekommen, also wenn mit der Katastrophen Systeme dauerhaft zusammenbrechen und sich nicht wieder erholen. Dazu aber an anderer Stelle mehr.

Melde dich gern, wenn du Interesse an einem spekulativen Katastrophenalarm hast oder uns mit Menschen aus dem Feld in Kontakt bringen kannst.